Digitale Transformation in der Gesundheitsbranche: Wie sich Patienten und Geschäftsmodelle verändern

Geposted am: 5. Januar 2021

Nils Seebach ist Unternehmer, Gründer und Experte für digitale Geschäftsmodelle. Er kennt die digitale Welt wie kein anderer. In den vergangenen Jahren war er an der Gründung zahlreicher Unternehmen in den Bereichen Commerce und Technologie beteiligt, darunter auch das “Einhorn“ der Otto-Gruppe About You. Seit einiger Zeit widmet sich Nils Seebach unter anderem als Co-Gründer der Digitalberatung Etribes dem Thema Digital Health. Erst kürzlich erschien dazu sein Fachbuch “Digitaler Puls“. Gemeinsam mit uns wirft er einen kritischen Blick auf die digitale Transformation der Gesundheitsbranche.
 

MedServation: Als Geschäftsführer und Gründungspartner von Etribes betreust du Kunden aus unterschiedlichen Branchen. In der Corona-Krise hat sich gezeigt, wie digital einzelne Branchen entwickelt sind und wie agil sie auf die Situation reagieren konnten. Es ist auch kein Geheimnis, dass die Healthcare Branche in den letzten Jahren von anderen abgehängt wurde. Wie würdest du den “Status quo” heute beschreiben?

Nils Seebach: Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Healthcare Branche enorm katalysiert. Plötzlich wurde allen, die in den letzten Jahren geschlafen haben, klar: Es muss etwas passieren. Trends und Marktbewegungen, die in den vergangenen Jahren zwar schon da, aber nicht breitenfähig waren, sind es nun geworden. Dazu zählt etwa der Bereich der Telemedizin. Hier, wie auch in der Debatte um die elektronische Patientenakte (ePA) oder die digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA, hat sich gezeigt, welchen Stellenwert die Regulatorik für den Fortschritt hat. Und weil es mit Jens Spahn einen sehr progressiven Gesundheitsminister gibt, konnten in diesem Jahr die Wege für zahlreiche digitale Lösungen geebnet werden. Es ist also einiges passiert – dennoch stehen wir mit Blick auf die tatsächliche Anwendung aber noch weit am Anfang.
 

MedServation: In deinem aktuellen Buch “Digitaler Puls” reflektierst du gemeinsam mit deiner Co-Autorin Luisa Wasilewski die Entwicklung des Gesundheitsmarktes der vergangenen Jahre. Auch wir konnten bei unseren Projekten beobachten, dass sich die Rolle des Patienten stark verändert hat und zu einem für den Erfolg der Unternehmen entscheidenden Faktor geworden ist. Wo siehst du den größten Nachholbedarf und wie sollte der Patient zukünftig wahrgenommen werden?

Nils Seebach: Der Gesundheitsmarkt ist extrem komplex, weil es eine Vielzahl an Akteuren gibt: stationäre und ambulante Versorger, Ärzte, Pfleger, Pharmaunternehmen, Krankenkassen, Apotheken, Investoren, Regulatoren, immer mehr Startups – und schließlich die Patienten. Wie in meiner Aufzählung, so kam bisher der Patient auch immer zuletzt dran, wenn es um das Beachten von Interessen ging. Das ändert sich aber! Wir kennen es aus dem E-Commerce, dass es eine Menge Services rund um den Einkauf gibt. Das rührt aus der totalen Fokussierung der Anbieter auf die Bedürfnisse der Kunden. Diese positiven Erfahrungen im E-Commerce und das Mehr an Transparenz dank digitaler Plattformen lassen unsere Erwartungen an Gesundheitsdienstleistungen steigen. Deswegen gilt für alle Akteure, den Patienten in den Mittelpunkt zu rücken und ihn als “Gesundheitskunden“ zu behandeln.

Der Patient sollte als Dreh- und Angelpunkt jeder Dienstleistung und jedes Produktes wahrgenommen werden. Das klingt banal, aber die Realität in unseren Krankenhäusern ist eben die, dass selbst auf einer Intensivstation Stift und Zettel die wichtigstens Hilfsmittel sind und Ärzte mehr Zeit für Dokumentationen aufwenden müssen als sie Zeit an der Seite der Patienten verbringen. Dieses Bild sollten sich alle, die an neuartigen Lösungen arbeiten, vor Augen halten.
 

MedServation: Die Rolle des Patienten als “Gesundheitskunde” können wir also festhalten. Seit Jahren beschäftigst du dich in deiner Rolle als Analyst stark mit digitalen Geschäftsmodellen. Was sind die relevanten Punkte, die ein digitales Geschäftsmodell im Gesundheitssegment erfüllen muss, damit es sich auf dem Markt durchsetzen kann?

Nils Seebach: Im Gegensatz zu einem E-Commerce-Startup hat ein Healthcare-Startup eine mindestens doppelt so lange Produktentwicklungsphase, weil die Anforderungen seitens des Regulators extrem hoch sind. Junge Unternehmen brauchen also einen langen Atem. Und nicht nur das: Sie brauchen Experten im Team, die die Prozesse bis zur Marktreife und die Abhängigkeit von Leistungserbringern – also etwa Krankenkassen – kennen. So können die Produkte oder Services mit dem nötigen Esprit entwickelt werden. Weil sich Healthcare-Startups mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sehen, brauchen sie zudem idealerweise Investoren, die “Smart Capital“ – neben Geld also auch Know-How – investieren.
 

MedServation: Zum Abschluss noch eine kleine Einschätzung: In den USA ist Amazon vor kurzem mit seiner Versandapotheke Amazon Pharmacy in den Medikamentenhandel eingestiegen. Wie beurteilst du diesen Schritt des US-Konzerns und welche Perspektiven können sich durch Plattformökonomie für den deutschen Markt ergeben?

Nils Seebach: Aus Sicht von Amazon war der Schritt nur konsequent. Wenn die Menschen Toilettenpapier und Teelichter dort kaufen, warum nicht auch Tabletten? Plattformen sind einfach extrem kundenorientiert, weil sie den Zugang zu einer Vielzahl an Produkten ermöglichen. Für alle anderen Marktteilnehmer bedeutet das, dass sie nun mehr denn je gefordert sind, mit ähnlichen Angeboten dagegenzuhalten. Damit das gelingt, müssen sie sich die fehlenden Kompetenzen aneignen. Dabei spielen die Fähigkeiten, Datenbanken aufzusetzen und anhand dieser intelligente Algorithmen zu trainieren, eine große Rolle. Auch die Plattformkompetenz, verschiedene Services in eine Kundenerfahrung zu integrieren, gehören dazu. Hier können schwerfällige, alteingesessene Mitstreiter von der Dynamik und Innovationskraft der Startups profitieren.