Warum die Digitalisierung in der Pflege keine Rolle spielt – Ein Branchenexperte gibt die Antwort

Geposted am: 24. November 2020

Die Pflege in Deutschland steht vor zahlreichen Herausforderungen. Ulrich Zerhusen kennt diese als Geschäftsführender Gesellschafter und Heimleiter der St. Anna-Stift Kroge GmbH aus erster Hand. Welche Lösungen er vorschlägt und in welchen Bereichen er Potenziale sieht, erklärt er im Interview.
 

MedServation: Was ist das größte Vorurteil gegenüber der Pflegebranche?

Ulrich Zerhusen: Vorurteile gibt es leider einige. „Ihr seht gar nicht nach Pflege aus“ ist der Spruch, den ich am häufigsten höre und der mich gleichzeitig am meisten ärgert. Pflege ist in unserer Gesellschaft ein bisschen „iiihh“. Da will niemand so ganz genau hinschauen. Oft hört man auch „Schön, dass ihr das macht, aber ich könnte das nicht“. Das ist noch einer dieser Sprüche, bei denen ich mich frage, wie das genau gemeint sein soll.
 

MedServation: Welche Fehler werden häufig in der Kommunikation und im Marketing gemacht?

Ulrich Zerhusen: Es sind die unzähligen schönen Geschichten, die nicht kommuniziert werden. Es wird nicht aktiv am Aufbau eines Images mitgearbeitet, sondern die Pflegebranche lässt es zu, dass die Diskussion zu sehr von anderen, sprich von Leuten, die nicht aus dieser Branche kommen, dominiert wird. Dabei sind wir doch diejenigen, die die Themen haben, die Herzen berühren. Edeka zum Beispiel macht einen emotionalen Weihnachtsspot und alle finden es toll. Da stellt sich mir schon die Frage: Was gibt es Vergleichbares von der Pflege?
 

MedServation: Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen in der Pflegeindustrie?

Ulrich Zerhusen: Eine der größten Herausforderungen in der Pflegebranche ist, dass es keine starke vereinte Interessenvertretung gibt. Die Pflege tappt leider immer wieder in die Falle, dass ausgenutzt wird, dass die Menschen die dort arbeiten, mit dem Herzen denken. Wenn die Pflegebranche in Deutschland versucht, gute Löhne und Preise auszuhandeln, sieht sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, wie sich die alte Dame das denn mit ihrer kleinen Rente leisten soll. Dieses Dilemma spaltet die Pflegekräfte.

Auch das Thema Marketing gehört zu den Herausforderungen. Gute Pflege braucht unbedingt gutes Marketing. Wir müssen die Deutungshoheit gewinnen und dürfen dies nicht alleine den Journalisten überlassen. Es gibt tausend schöne Geschichten zu erzählen – jeden einzelnen Tag! Und genau diese Geschichten müssen wir als Teil der Pflege verbreiten. Es liegt an uns! Niemand anderes wird es für uns tun. Das muss uns allen bewusst werden.

Die drittgrößte Herausforderung ist meiner Meinung nach die Digitalisierung von Prozessen im Pflegebetrieb. Natürlich würde sie vielen Pflegeheimen und Dienstleistern dabei helfen, ihre Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Jedoch werden die dafür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen an anderer Stelle und zwar in der Betreuung pflegebedürftiger Menschen benötigt.
 

MedServation: Also spielt die Digitalisierung aktuell in der Pflege noch keine Rolle?

Ulrich Zerhusen: Meiner Meinung nach nicht in ausreichendem Maße. Die Pflege ist durch schlechte Rahmenbedingungen so überlastet, dass sie nicht wirklich dazu kommt, auf die Digitalisierung von Prozessen zu setzen. Digitalisierung erfordert eine Menge Ressourcen, insbesondere Geld und Zeit. Beides hat die Pflege nicht. Weil ihr bereits dieses erste Invest schwer fällt, kommt sie auch nicht in den Genuss all der Benefits, die dadurch erfolgen.
 

MedServation: In welchen Bereichen siehst du Potenziale für den Einsatz von digitalen Tools?

Ulrich Zerhusen: Da wäre zum einen die Dokumentation per Spracherkennung (Alexa etc.). Ein ganz großes Thema ist auch die Telemedizin als Schnittstelle zu den Ärzten und Pflegekassen, zum Beispiel für die Rezepte und Verordnungen von Pflegebedürftigen. Diese müssen aktuell noch in Papierform erst von der Arztpraxis abgeholt, dann handschriftlich ausgefüllt und schließlich zur Pflegekasse geschickt werden. Damit ist es aber noch nicht vorbei. Eine Verwaltungskraft der Pflegekasse prüft die Verordnungen und schickt die Genehmigung dann gegebenenfalls per Post wieder an den Pflegedienst zurück. Und das passiert hunderttausendfach jeden Tag in Deutschland. Dieser Prozess frisst die knappste Ressource, die wir haben: die Zeit unserer Pflegefachkräfte.
 

MedServation: Wie stellst du dir die Zukunft der Pflege vor?

Ulrich Zerhusen: Ich stelle mir die Zukunft der Pflege als eine hochprofessionelle, selbstbewusste Branche vor, die ihre Ressourcen durch digitalisierte Prozesse schonen und dort einsetzten kann, wo sie am meisten gebraucht werden: am Menschen.