Digitalisierung in der Arztpraxis – Kurzer Hype oder langfristige Entwicklung?

Geposted am: 8. Dezember 2020

Als Spezialistin für Praxismanagement berät Eva Kalthoff seit 20 Jahren Ärzte bei der Gründung von Praxen, bei Praxisübernahmen als auch bei der Optimierung bestehender Praxen. In den letzten Jahren dominierte dabei ein Thema ihre Arbeit: die Digitalisierung. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, welchen Effekt die Corona-Krise auf die Abläufe und Prozesse in Praxen hatte und auch weiterhin haben wird und wie sie die Entwicklung der Digitalisierung sieht.
 

MedServation: Frau Kalthoff, was hat sich durch Covid-19 in den Praxen verändert?

Eva Kalthoff: Durch die Corona-Krise werden deutlich mehr digitale Kommunikationsmedien in Anspruch genommen als vorher. Die Akzeptanz bei den Patientinnen und Patienten hat sich, würde ich schätzen, um 50-70% verbessert. Früher war es ja so, dass der Patient den Anspruch hatte, auf jeden Fall in die Praxis zu kommen und den Arzt persönlich zu sehen. Heute ist das viel entspannter. Viele Dinge wie Laborergebnisse oder Röntgenbefunde werden in einer Videosprechstunde besprochen. Der Patient spart sich den Weg in die Praxis.
 

MedServation: Und was hat der Arzt davon?

Eva Kalthoff: Die meisten Ärzte erhoffen sich von der Videosprechstunde eine Zeitersparnis, durch die sie mehr Zeit für die einzelnen Patienten haben oder die Patientenzahl in der Praxis optimieren können. Das ist aber nicht der Fall. In einer internistischen Praxis oder einer Hausarztpraxis werden die Patienten ja jetzt schon im 5-Minuten-Takt durchgeschleust. Da arbeiten alle schon am Maximum. Und körperliche Untersuchungen oder Behandlungen können einfach nicht digitalisiert werden, dafür ist auch einfach eine bestimmte Zeit notwendig.

Der große Vorteil liegt ganz woanders: In der Praxis kann strukturierter und fokussierter gearbeitet werden. Es müssen keine Karten eingelesen werden, es gibt keine Rückfragen. Und am wichtigsten: Es gibt eine feste Uhrzeit, zu der sich Patient und Arzt verpflichten. Die müssen beide einhalten.
 

MedServation: Halten Sie das für eine kurzfristige Entwicklung oder sehen wir hier den Beginn einer langfristigen Veränderung?

Eva Kalthoff: Der Digitalisierungsschub, den Covid-19 ausgelöst hat, ist meiner Meinung nach nur der Anfang. Vor der Pandemie waren viele rechtliche Punkte nicht geklärt, viele Ärzte hatten Sorge, digitale Tools auszuprobieren. Dadurch, dass sie es jetzt zwangsweise ausprobieren mussten, sind viele Hemmungen gefallen. Vorher war die Situation zum Beispiel so, dass Hersteller von Praxissoftware den Ärzten gesagt haben: “Wenn du unser Patienteninformationssystem nutzt, darf gleichzeitig kein anderes Browserfenster geöffnet sein.” Das hat natürlich verunsichert.

Es gibt aber immer noch viele Aspekte, die rechtlich offen sind. Die meisten Praxen würden gerne komplett digital sein, können es aber nicht, weil es so viele Regeln gibt, die man befolgen sollte.
 

MedServation: Neben der Videosprechstunde und digitaler Praxissoftware gibt es ja noch viele weitere digitale Neuerungen. Wie sieht es damit aus?

Eva Kalthoff: Bei digitalen Gesundheitsapps hat sich schnell gezeigt, dass diese ein Nischenprodukt sind. Wenn Sie Arzt sind, haben Sie Patienten von null bis hundert Jahren mit ganz unterschiedlicher Technikaffinität. Die Anzahl der Patienten, die mit einer App umgehen können, sodass sie wirklich etwas bringt, ist da relativ klein. Super ist alles, was für den Patienten einfach ist.

Was immer gut funktioniert, ist, wenn man dem Patienten ein Zettelchen mitgibt, mit einem Link zu einer Website mit ein paar Videos. Bei Basis- oder Dauertherapien, bei denen Patienten langfristig Medikamente einnehmen müssen, kann das den Arzt extrem entlasten und die Compliance erhöhen. Gerade in der Altersgruppe von 60-80 wird das sehr gut angenommen und teilweise sogar nachgefragt. Bei den Jüngeren sind Videos ja sowieso der Standard.

Und sogar das Zettelchen lässt sich digitalisieren. Wenn der Patient vom Patienteninformationssystem der Praxis eine SMS mit seiner Terminerinnerung bekommt, kann da auch direkt ein Link drin sein mit der Info: Schauen Sie sich vor Ihrem Termin doch dieses Video an. Dann kommt der Patient informierter zum Gespräch und der Arzt muss nicht alle Grundlagen erklären, sondern kann sich Zeit nehmen, um auf die individuellen Fragen einzugehen.